Interview

Kreislaufwirtschaft für Kohlenstoff – der Schlüssel zu einer nachhaltigen Chemieindustrie

Erneuerbarer Kohlenstoff und biobasierte Rohstoffe bei Henkel Adhesive Technologies

Kreislaufwirtschaft 06.05.2022
Several windmills on green overgrown grass hills

Ob Windrädermaterialien, Textilien, Kunststoffbeschichtungen oder Autos: Fast alles basiert auf Kohlenstoff. In der Chemieindustrie war und ist Kohlenstoff ein Basisrohstoff von Anfang an. Ein überwiegender Teil der derzeit verwendeten Kohlenstoffquellen sind fossilen Ursprungs wie Erdöl, Erdgas oder Kohle, die aus dem Boden gewonnen werden. Diese sind jedoch nicht unbegrenzt verfügbar und setzen früher oder später durch Verbrennung oder Verrottung große Mengen an CO2 frei, was den Klimawandel beschleunigt. Eine Lösung ist es, die Industrie auf die Nutzung von erneuerbarem Kohlenstoff umzustellen. Was erneuerbarer Kohlenstoff ist und wie ein Umstieg gelingen kann, erklärt Adrian Brandt. Als Leiter der Forschungsplattform Bio-Renewable Materials im Bereich Adhesive Technologies bei Henkel beschäftigt er sich mit einer zentralen Frage: Wie können Rohstoffe auf der Basis von erneuerbarem Kohlenstoff und vor allem biobasierte Rohstoffe in der Industrie zu einer nachhaltigeren Zukunft beitragen?

1. Was versteht man unter erneuerbarem Kohlenstoff?

Adrian Brandt: Erneuerbarer Kohlenstoff umfasst alle Kohlenstoffquellen, die die Verwendung von zusätzlichem fossilem Kohlenstoff, also Erdgas, Erdöl und Kohle, vermeiden oder ersetzen. Für erneuerbaren Kohlenstoff kommen drei Quellen infrage: Biomasse, Recycling vorhandener Kunststoffe und Materialien oder CO2 aus Luft und Abgasen.

2. Wie lassen sich Materialien auf der Basis von erneuerbarem Kohlenstoff gewinnen?

Adrian Brandt: Rohstoffe und Chemikalien für Klebstoffe oder andere Anwendungen lassen sich zum Beispiel aus Biomasse gewinnen. Das ist eine mögliche Quelle für Materialien auf der Basis von erneuerbarem Kohlenstoff. Unter Biomasse fällt einfach gesagt alles, das wächst und irgendwann einmal grün ist, also alle organischen Stoffe pflanzlichen Ursprungs. Man unterscheidet hier zwischen drei Generationen: Die erste Generation Biomasse umfasst die Frucht der Pflanze, zum Beispiel Stärkepflanzen wie Mais oder Kartoffeln. Der Rest der Pflanze, die Blätter und Stängel, zählen zur zweiten Generation. Die Fachwelt nennt das Lignocellulose. Algen stellen die dritte Generation Biomasse dar.
Dann gibt es noch die Möglichkeit, erneuerbaren Kohlenstoff durch Recycling zu gewinnen. Recyclen kann man alles, sowohl Materialien und Müll auf der Basis von erneuerbarem (aus Biomasse, Recycling oder CO2 aus Luft und Abgasen) als auch auf der Basis von fossilem Kohlenstoff. Chemische Grundstoffe lassen sich beispielsweise aus Abfall gewinnen, etwa aus Kunststoffverpackungen. Mithilfe neuer Technologien können solche Grundchemikalien wie Ethanol auch aus der Luft oder Abgasen gewonnen werden.

3. Wie funktioniert das genau? Wie lässt sich CO2 aus Luft und Abgasen gewinnen?

Adrian Brandt: Aus der Luft kann CO2 gefiltert werden. Das funktioniert überall da, wo eine Überproduktion von Energie herrscht – zum Beispiel bei der Windkraft oder Photovoltaikanlagen – oder wo Abwärme entsteht. Diese überschüssige Energie kann verwendet werden, um CO2 aus der Luft zu filtern und beispielsweise in Chemikalien wie Methanol, Ameisensäure, Methan oder Treibstoffe umzuwandeln. Für die Abgasnutzung sind Fermentationsanlagen ein konkretes Beispiel. Diese werden an Stahl- oder Zementwerke oder eine andere Industrieanlage, die viele Abgase verursacht, gestellt. Die Fermentationsanlage saugt das CO2 aus den Abgasen ein und spezielle Bakterien wandeln es in Chemikalien oder Rohstoffe um. Auf diese Weise können in einer solchen Anlage pro Jahr circa 40.000-50.000 Tonnen Ethanol produziert werden.


So lassen sich Materialien auf der Basis von erneuerbarem Kohlenstoff gewinnen

4. Welches Verfahren ist am vielversprechendsten? Und kann eine (langfristige) Umstellung auf erneuerbaren Kohlenstoff in der Chemieindustrie gelingen?

Adrian Brandt: Wir brauchen alle drei Verfahren. Es ist sicherlich am wichtigsten, dass wir Fortschritte im Recycling von Abfall machen, denn das wird die größte Masse in Zukunft darstellen. Allerdings reicht das allein nicht aus, denn auch die Prozessenergie und -wärme muss aus erneuerbaren Energiequellen kommen. Was im Energiesektor der Wandel zu erneuerbaren Energien ist, ist in der chemischen Industrie der Wandel von fossilen zu erneuerbaren Kohlenstoffen als Rohstoffquelle. Müll, Biomasse und CO2 müssen die neuen Rohstoffe für die Chemieindustrie werden anstelle von Erdgas und Rohöl. Diesen Wandel können wir nur erreichen, indem wir einen Kreislauf schaffen. Wir müssen den fossilen Kohlenstoff im Boden lassen und stattdessen mit dem Kohlenstoff arbeiten, der über dem Boden zirkuliert, zum Beispiel im Haushaltsmüll. Oder wir ziehen das CO2 direkt aus der Atmosphäre. Das ist die Vision, die dahintersteckt: eine Kohlenstoff-Kreislaufwirtschaft.

Adrian Brandt, Leiter der Forschungsplattform Bio-Renewable Materials im Bereich Adhesive Technologies bei Henkel

Was im Energiesektor der Wandel zu erneuerbaren Energien ist, ist in der chemischen Industrie der Wandel von fossilen zu erneuerbaren Kohlenstoffen. Das ist die Vision, die dahintersteckt: eine Kohlenstoff-Kreislaufwirtschaft.

5. Du bist der Leiter der Forschungsplattform „Bio-Renewables“ bei Henkel. Was hat es damit auf sich?

Adrian Brandt: Die Plattform wurde 2015 aufgesetzt. In meinem Team entwickeln wir keine Endprodukte, sondern wir beschäftigen uns mit den Rohstoffen auf erneuerbarer Kohlenstoffbasis. Unser Ziel ist es, mehr Produkte auf den Markt zu bringen, die auf erneuerbarem Kohlenstoff basieren. Um das zu erreichen, beraten wir zum Beispiel unsere internen Abteilungen und Kolleg:innen und extern bauen wir ein Netzwerk mit Lieferanten, Start-ups oder Wissenschafts­instituten auf. Gemeinsam wollen wir rechtzeitig an den Materialien der Zukunft forschen, aber auch verstärkt die erneuerbaren Rohstoffe in unsere Produkte bringen, die schon heute verfügbar sind. Wir zeigen, was möglich ist und prüfen, wie neue Klebstofflösungen umgesetzt werden können. Außerdem haben wir ein Labor, in dem wir selbst Rohstoffe herstellen – proaktiv aber auch auf Anfrage. Wir entwickeln neue Technologien, die unsere Klebstoffe besser machen und auch zukünftige Kundenanfragen vollumfänglich erfüllen können. Dazu nutzen wir zum Beispiel einzigartige Strukturen aus der Natur, um Eigenschaftsvorteile wie etwa eine sehr gute Haftung, Chemikalienresistenz oder UV-Stabilität zu gewinnen. Es geht also darum, alle Kunden­anforderungen zukünftig mit Produkten auf der Basis von erneuerbarem Kohlenstoff zu erfüllen.

6. Wie tragen die Klebstofftechnologien und -lösungen von Henkel konkret zu einer nachhaltigeren Zukunft bei?

Adrian Brandt: Wir wollen Klebstoffe mit einem möglichst hohen Anteil an erneuerbarem Kohlenstoff entwickeln. Denn tatsächlich haben Rohstoffe den größten Anteil am Gesamt-CO2-Fußabdruck. Unsere Produktion selbst macht nur einen geringen Teil aus. Der CO2-Fußabdruck eines Produktes kann theoretisch auf nahezu null gesenkt werden, wenn gleichzeitig in allen Prozessschritten erneuerbare Energie eingesetzt wird. Das ist unmöglich mit fossilen Rohstoffen. Ein konkretes Beispiel: Im Elektronikbereich wollen wir bis 2025 jeden Polyurethan-Klebstoff mit mindestens 50 Prozent erneuerbarem Kohlenstoffanteil produzieren. Unabhängig von den Rohstoffen wollen wir auch Lösungen bieten, die Recycling ermöglichen. Wir wollen beispielweise bei Handys gewährleisten, dass die Klebstoffe alles gut zusammenhalten und zugleich wollen wir dafür sorgen, dass der Klebstoff sich bei Bedarf leicht lösen lässt, um den Recyclingprozess zu erleichtern.

Adrian Brandt, Leiter der Forschungsplattform Bio-Renewable Materials im Bereich Adhesive Technologies bei Henkel

Wir wollen Klebstoffe mit einem möglichst hohen Anteil an erneuerbarem Kohlenstoff entwickeln.

Renewable Carbon Initiative (RCI)

Bereits seit 2020 ist Henkel Gründungsmitglied der Renewable Carbon Initiative (RCI) vom Nova-Institut. Ziel der Initiative ist es, den Übergang von fossilem zu erneuerbarem Kohlenstoff für alle organischen Chemikalien und Materialien zu fördern.

7. In welchem Bereich siehst du das größte Potenzial für den Einsatz von biobasierten Rohstoffen?

Adrian Brandt: Das Potenzial für den Einsatz von biobasierten Rohstoffen ist in fast allen Bereichen da. Derzeit brauchen wir vor allem die Elektronikindustrie, um zu demonstrieren, dass erneuerbarer Kohlenstoff eine gute Alternative ist und die Technologie funktioniert. Der Vorteil: In dieser Branche können die höheren Kosten, die in der Anfangsphase der Umstellung und Entwicklung anfallen, toleriert werden. Das führt dann dazu, dass nach und nach auch andere Sparten die Alternativen aufgreifen, das Volumen steigern und damit die Kosten senken. Die Verpackungsindustrie ist aus meiner Sicht jedoch am wichtigsten, weil dort bei uns die größten Mengen produziert werden. Hier sind theoretisch die meisten Emissionseinsparungen möglich. Wir haben bereits in den beiden genannten, aber auch in anderen Bereichen biobasierte Produkte auf dem Markt.

8. Warum ist gerade der Lebensmittel- und Verpackungsbereich so wichtig?

Adrian Brandt: Dieser Bereich ist sehr preisgetrieben, da es oft um günstige Wegwerfartikel wie Strohhalme und Verpackungen geht. Demenentsprechend fallen sehr große Mengen Müll an und Recycling und Kreislaufwirtschaft ist besonders wichtig. Hier können wir das Thema erneuerbaren Kohlenstoff mit viel Nachdruck vorantreiben. In diesem Sinne hat Henkel den Klebstoff Technomelt Supra ECO mit einem Bioanteil von 98 Prozent entwickelt. Er enthält eine Mischung aus klassisch biobasierten Rohstoffen und welche, die nach dem Biomassebilanzverfahren zertifiziert sind. Diese unabhängige Zertifizierung bestätigt, dass unsere Lieferanten für die biomassebilanzierten Rohstoffe die benötigte Menge an fossilen Rohstoffen durch eine entsprechende Menge aus nachwachsenden Rohstoffen am Anfang der Industriewertschöpfungskette ersetzen. Das Ziel, mehr als 80 Prozent biobasierte Rohstoffe zu verwenden, ohne dabei Abstriche bei der Performance einzugehen oder diese sogar zu steigern, ist technisch herausfordernd. Wir konnten eine innovative Technologie entwickeln, die unsere Branche weiter in die Zukunft führen wird.

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